Wotan und ich
1996 war mein Pferd Wotan zehn Jahre alt
und lahmte extrem, nachdem wir im Spring-
training direkt nach der 100-cm-Mauer auf
der rechten Vorhand zu früh gewendet haben. Eine Odyssee der Diagnosen und Prognosen
begann. Viele Tränen der Verzweiflung und Trauer flossen.
In einer der renommiertesten Kliniken in Deutschland kam die vernichtende Diagnose: finale Strahlbeinlahmheit. Die tiefe Beugesehne würde sich an den grossen Löchern im Strahlbein auffasern, wie an einem Bimsstein. Das klang für mich logisch. Diese Diagnosen gibt es immer noch. Wer genau reinschaut in den Huf, der sieht, dass die tiefe Beugesehne (TBS) gar nicht an diesen Löchern reiben kann...
Heute würden diese grossen Löcher im Strahlbein, die Lollipops, nun "Zysten im Strahlbein" genannt werden. Siehe Röntgen 1996.
Unsere Geschichte
Wir befolgten damals alle vermeintlichen Behandlungen wie orthopädischen Beschlag, Boxenruhe, Gelenkspritze, Medikationen und Schritt führen. An diesem Standard hat sich auch heute eigentlich in den Kliniken noch nicht so viel verändert.
Wotans Zustand verschlechterte sich immer weiter. Mein Wallach hatte starke Schmerzen. Ich hatte mir schon die Telefonnummer eines Metzgers besorgt, um ihn von den Schmerzen zu erlösen, wozu die Klinik geraten hatte - einer, der direkt auf dem Hof die Euthanasie vornehmen würde und die Reise zum Schlachthof oder zur Klinik ersparte.
Durch einen Zufall entschied ich mich spontan für "einen Sommer auf einer Gnadenbrotwiese" auf einer Rheinwiese auf dem Deich zwischen Düsseldorf und Köln. Den teuren orthopädischen Beschlag hatte er beim ersten Regen auf der Ganzjahresweide abgerissen, was, wie sich später herausstellen sollte, unser "Glück" war.
Es begannen die schönsten 20 Jahre meines Lebens (nach damaliger Zeitrechnung). Ein Sommer später, 1997, reiste ich gemeinsam mit Wotan zu einem zweitägigen Huf-Kurs.
Am ersten Tag gab es eine Augen öffnende Theorie. Zum Glück hatte ich "zufällig" meinen Wotan schon seit einem Jahr artgerecht auf der Weide in der Herde, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr, mit meist artgerechtem Futter und aus Zufall dann schon ohne Hufeisen. Er tickte noch deutlich, aber ohne grosse Schmerzzeichen; eher wie eine mechanische Behinderung, wie ich das gerne nenne. Erkennst du den Unterschied?
Am zweiten Tag wurde vor laufender VHS-Video-Kamera, mit wunderbarer Dokumentation vom Seminarleiter, ausgeschnitten. Nach der Bearbeitung trabte ich mit Wotan auf der Straße vor. Alle Anwesenden hatten "Pipi in den Augen" -> Tränen des Glücks flossen bei uns allen.
Zurück am Weidezaun auf der Rheinwiese konnte es gar nicht schnell genug gehen. Und dann schwebte Wotan im rasend schnellen Galopp über seine Weide zu seiner Herde.
Leider habe ich nach meinem Umzug in die Schweiz dieses VHS-Video nicht mehr wiedergefunden. Anhand dieses Films habe ich früher über Jahre die Bearbeitung meines Pferdes vorgenommen. In vielen Hufbüchern habe ich die Vorher-Nachher-Bilder regelrecht inhaliert.
In meinem Umfeld hatte ich immer 3-5 Pferde, bei denen ich die Hufe optimieren sollte, damit sie nicht eingeschläfert werden mussten. Das gelang mir stets, und es sah aus wie Magie. Doch es steckt eine ganz einfache, physikalische und biochemische Erklärung dahinter. 2010 begann ich meine Ausbildung, um offiziell und mit Diplom die Pferde-Menschen in der Schweiz aufzuklären.
"Here we are".
Nach mehreren Dutzend Huf-Kursen wurde ich gebeten, ein Buch für all die Pferde-Menschen zu schreiben, die von Hufproblemen geplagt sind und in der Odyssee der Euthanasie-Vorschläge schweben.
Kaum war das Buch fertig, wurde ich schon gebeten, es unbedingt ins Englische und Französische zu übersetzen. Daran arbeiten wir jetzt.
Ich bin dankbar, von wunderbaren Fachleuten umgeben zu sein: einer Tierärztin, einem Humanmediziner, einer OP-Schwester, Hufschmieden, Huf-SchulleiterInnen, Hufpflegern, Osteopathen und vielen mehr. Sie alle helfen mir, Fotos und Texte zu finden, die das wiedergeben, was wir gemeinsam herausgefunden haben. Sie alle sind Zeitzeugen, die die Nerven wie Drahtseile im Huf identifiziert haben.
Das muss weiter in die Welt rausgetragen werden: "Nerven wie Drahtseile im Huf" 📒🐎📒
Hufe besser verstehen, Lahmheiten vorbeugen und beseitigen.
Wer weiß, wie Hufe von innen aussehen, kann sich gut vorstellen, wie sie von außen aussehen könnten, um bequem zu sein. Bequem bedeutet, dass kein unnötiger Zug, Druck oder Quetschung in der zarten Huflederhaut, den Lamellen, der Faszien im Huf und vielem mehr ausgeübt wird.
Wotan hat sich kurz vor seinem 31. Geburtstag auf seiner Ganzjahresweide hingelegt, an einem Winterabend. Es war klar, dass es irgendwann so weit war. Zwei Tage zuvor haben wir noch einen gemütlichen Ausritt gemeinsam. Doch dann wurde sein Herz ganz langsam und müde.
Mein lieber Seelengefährte ist friedlich eingeschlafen.
Danke, lieber Wotan, für alles, was du mich gelehrt hast.